Nicht schön, aber direkt

An lauen Sommerabenden stehe ich gern auf der Eisenbahnbrücke am Lohring in Bochum und schaue auf meine Stadt. Ich sehe das Mercedes-Hochhaus am Bahnhof, die Fiege-Brauerei, das neue Hochhaus der Stadtwerke (das ein bisschen aussieht wie der Monolith aus »2001«), die Türme von Propstei- und Christuskirche, und ganz rechts erkenne ich sogar noch den Förderturm des Bergbau-Museums. Und dann denke ich: Boah! Schön ist das nicht!

Wir im Ruhrgebiet laden Auswärtige gern ein, zu uns zu kommen, um ihren Begriff von Schönheit zu erweitern. Eine mittelalterliche Garnisonsstadt mit Stadtmauer, Fachwerkhäusern und Fürstenresidenzen schön finden, das kann jeder. Aber auf dem Gasometer in Oberhausen stehen, sich umgucken und sagen: Wat ne geile Gegend!, das muss man wollen. Dafür muss man von hier sein.

Was wird am Ruhrgebiet am meisten überschätzt? Das viele Grün! Wir können es nicht mehr hören, wenn die Zugereisten sagen: Ich hätte nie gedacht, dass es hier so viele Bäume gibt! Ja, stellt euch vor, wir haben sogar fließend Wasser!

Aber »Gegend«, von der wir bei uns nebenbei bemerkt gar nicht so viel haben, ist auch nicht so wichtig. Das Wichtige sind immer die Leute.

Was sind wir für ein Menschenschlag im Ruhrgebiet? Nun, man sagt uns nach, wir seien nicht besonders höflich, dafür aber sehr direkt. Das heißt, man kommt mit uns ins Gespräch, ob man will oder nicht. Und erfährt bisweilen Dinge, ohne die man durchaus hätte weiterleben können. Ich selbst stand mal an einer Ampel und gewahrte aus dem Augenwinkel einen älteren Herrn, der nonverbal, durch aggressives Gucken, mit mir Kontakt aufnehmen wollte. Ich hatte daran kein Interesse und versuchte, das rote Männchen zu hypnotisieren, auf dass es schneller dem grünen Platz mache. Da sprach der Mann mich doch noch an.

»Na? Willz au rübba?«

Ich hielt dicht.

»Ich hab hier mal zehn Minuten gestanden«, fuhr der andere fort, »dann hab ich gemerkt, die Ampel is aus! Ich hatte immer so rote Flecken vor die Augen, da dachte ich, dat is die Ampel, aber dann bin ich zum Arzt gegangen, und der sachte, ich hab noch drei Monate. Du, is grün, lass rübba-gehn!«

Oder fragen Sie mal in unserer Gegend nach dem Weg. Woanders kann es Ihnen passieren, dass Ihnen auf die entsprechende Frage tatsächlich erklärt wird, wie Sie Ihr Ziel erreichen. Bei uns müssen Sie mit der Antwort rechnen: »Watt willze denn da? Hömma, ich war da ma. Da war scheiße. Da willz du gar nich hin! Ich sach dir getz ma, wo du hinwillz!«

Wir befleißigen uns im Ruhrgebiet einer eher kräftigen, derben Sprache. Eine Begrüßung wie »Ey Jupp, du altes Arschloch!« wird vom Angesprochenen nicht zwingend als Beleidigung empfunden. Im Gegenteil: Trifft man diesen ]upp ein paar Tage später wieder und sagt nur: »Hallo Jupp!«, kann es sein, dass er zurückstänkert: »Watt is denn mit dir los? Bin ich dir kein Arschloch mehr wert, Herr Graf?«

Auch hat unsere Sprache oft etwas sehr Bildhaftes. Kleine Kinder oder Erwachsene unter eins siebzig werden gern als »Furzknoten« bezeichnet. Und wenn man eine unattraktive Frau als »Schabracke« bezeichnet, hat man sie doch ebenso vor Augen wie den ungepflegten Mann, den »Schäbbigen«.

Manchmal sollte man aber darauf verzichten, sich das, was da so bildhaft beschrieben wird, umstandslos vors innere Auge zu holen. So etwa wenn die Omma sagt: »Kär, ich war auf die Beerdigung von die alte Döhmann. Da war so kalt, da habbich mir richtich n Pinn inne Fott gefrorn!«

Oder wenn der Nachbar einen im Flur abpasst und meint, im Keller sei mal wieder das Licht defekt: »Da is widda finster wie im Bärenarsch!«, da fragt man sich natürlich, woher die Leute ihre Vergleichsmöglichkeiten haben.

Wir sind eben Sprücheklopfer. Das heißt, wir sind in der Lage, große Weisheiten in kleine Sätze zu packen. Meine Omma zum Beispiel. Die konnte man alles fragen, sich von ihr auch komplizierte historische Zusammenhänge allgemeinverständlich erklären lassen:

»Omma, wie war das nach dem Krieg?« - »Na ja, wir hatten nix!« Da steckte alles drin. Und mit dem Zusatz »War doch allet kaputt odda beim Russen!«, floatete sie auch noch die Reparationsproblematik mit ein. Das funktionierte auch mit anderen Epochen: »Omma, wie war das mit Napoleon?« -»Na ja, der war klein!« Und mehr musste man über den Mann auch nicht wissen.

Oder mein Oppa! Von dem könnten die ganz großen Ruhrgebietsweisheiten stammen, die man sich so erzählt. Wenn mein Oppa zum Beispiel ausdrücken wollte, dass einer zwar die Schnauze aufreißt, aber nicht wirklich was zu erzählen hat, sagte er: »Kein Arsch inne Buchse, aber La Paloma pfeifen!« Und wenn er das steigern wollte, meinte er: »Keine Haare am Sack, aber im Puff drängeln!« Und ich habe später herausgefunden: Das stimmt! Müssen Sie mal drauf achten, wenn Sie den nächsten Termin haben!

Mein Oppa hatte auch keinen übertriebenen Respekt vor großen Namen - ganz im Gegensatz zu meiner Omma. Tauchte zum Beispiel einer der Lieblingsstars meiner Omma im Fernsehen auf, rutschte sie ganz nervös auf dem Sofa hin und her und rief: »Ach guck mal! Der Vicco Torriani!« Was mein Oppa gern mit einem knackigen »Der geht auch nur kacken!« konterte.

Ganz anderes Thema im Ruhrgebiet: die Luft. Früher hatten wir gar keine, heute sind wir laut Ruhrgebietstourismus GmbH der reinste Luftkurort. Eine Art Davos mit Industriekultur. Wenn da nicht ein fieses kleines Wörtchen wäre: Feinstaub. Doch mit Begriffen, in denen die Silbe »fein« drin vorkommt, kann der Alteingesessene nichts anfangen. Nehmen wir nur Theo, den alten Schrebergartennachbarn meiner Eltern: »Theo, was sagst du zum Thema Feinstaub?«

»Ach geh mir doch weg mit Feinstaub! Wir, nä, wir hatten früher Staubkörner, die waren groß wie RATTEN! Und wir sind auch groß geworden!«

Die Klischees über das Ruhrgebiet halten sich ziemlich hartnäckig, und jahrelang habe ich sehr viel Energie auf den Versuch verschwendet, sie zu widerlegen. Heute sage ich mir: Scheiß drauf! Wenn ihr den ganzen Mist glauben wollt, bitteschön. Überhaupt geht es darum, als Einheimischer ein entspanntes Verhältnis zu diesen Klischees zu entwickeln. Ich persönlich reise mittlerweile durchs Land und sage jedem, der es nicht hören will: »Ja, das stimmt alles. Wir leben wirklich unter Tage. Die Häuser oben sind nur Attrappen. Wir kommen praktisch nur für so quasi-religiöse Zusammenkünfte wie meine Lesungen an die Oberfläche. Unsere Kinder kommen wirklich mit der Grubenlampe an der Stirn zur Welt. Und wir haben natürlich alle noch einen alten Förderkorb in der Küche, da wird morgens die Familie hineingetrieben, dann geht es in einem Affentempo auf tausend Meter Tiefe, und dann wird zum Frühstück an der leckeren Kohle geschleckt!«

»Stopp!«, rufen dann die Bedenkenträger. »Ist es nicht total peinlich, sich immer noch auf dieses überkommene Malo-chertum zu berufen?«

Gegenfrage: Ist es nicht viel peinlicher, sich selbst immer noch zu Blasmusik auf den Arsch und auf die Schuhe zu hauen, obwohl man auch seit hundert Jahren keine Kuh mehr auf die Alm getrieben hat?

Das Ruhrgebiet hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, das Recht erarbeitet, sich hemmungslos zu stilisieren und sich zu dem zu bekennen, was es einzigartig macht, nämlich ebenjene Arbeit. Zumindest die von früher.

Und trotzdem stehen wir an lauen Sommerabenden auf unseren Eisenbahnbrücken, schauen auf unsere Städte, freuen uns darüber, wie schön das Leben mit Abitur sein kann, und denken: »Nä, schön is dat nich. Abba meins!«

Oder wie es mein Oppa auszudrücken pflegte: »Ach, woanders is auch scheiße!«

 

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